Protoganist als Dichter: Weshalb Pasternak Schiwago dichten liess

19. Mai 2025
Schiwago's Ankunft im Dorf

Im Russischunterricht haben wir einige Kapitel der Lektüre Doktor Schiwago angeschaut, geschrieben von Boris Pasternak und publiziert im Jahr 1958. Da es sich um eine Geschichte handelt, die zur Zeit des Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1922 spielt und den Sozialismus ein wenig kritisiert, wurde das Buch zunächst nur im Ausland veröffentlicht und nicht in der UdSSR. Erst 1987 wurde es unter Gorbatschow dort offiziell publiziert.

Ich beziehe mich in diesem Blogartikel nur auf ein paar Kapitel der Lektüre, die wir im Unterricht behandelt haben – konkret den zweiten Teil des Buches in der Ausgabe vom S. Fischer Verlag, Seiten 332 bis 366. Meine zentrale Fragestellung ist, weshalb Gedichte und andere große Dichter eine so wichtige Rolle spielen und so häufig erwähnt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Figur Doktor Schiwago und die Frage, warum Pasternak ihn zugleich als Dichter gestaltet hat.

In den Kapiteln zieht Schiwago mit seiner Frau und seinem Sohn in ein kleines Dorf abseits der großen Städte. Er ist eigentlich Arzt, doch weil die Rote und Weiße Armee gegeneinander kämpfen, flieht er ins Dorf, um nicht als Militärarzt eingezogen zu werden. Unser Russischlehrer erklärte dazu, dass besonders in den Städten blutige Kämpfe stattfanden, bei denen viele Zivilisten starben, ein weiterer Grund, warum das Dorfleben für Schiwago eine kluge Wahl war.

In diesen Kapiteln beschreibt Schiwago das Leben im Dorf in einem romantischen Stil. Er reflektiert über Dinge, die er mag, und beschreibt die Natur und das ländliche Leben. Dabei schreibt er selbst Gedichte und denkt über große russische Dichter und ihre Werke nach. Namentlich erwähnt werden Gogol, Puschkin und Dostojewski.

Zur Frage, weshalb diese Dichter überhaupt genannt werden, meinte unser Lehrer, dass es in Russland zum guten Ton gehörte, große Dichter in einem Werk zu zitieren. Das liegt vermutlich daran, dass Literatur in der Sowjetunion eine wichtige moralische Instanz war, und das Wissen um diese Klassiker galt als Zeichen von Bildung und Kultur.

Meine Großmutter erzählte, dass sie in der Schule bereits ab der ersten Klasse Leselisten mit Klassikern bekamen, die sie über die Sommerferien lesen mussten. Neben dem normalen Sprachunterricht gab es zudem eine zusätzliche Lektion „Literatur“. Das zeigt, wie zentral es für die sowjetische Allgemeinbildung war, diese Autoren zu kennen und Zitate aufsagen zu können – nicht nur als kulturelles Kapital, sondern auch als moralischer Kompass.

Zugleich war die Literatur eine der wenigen Arten, wie man in der UdSSR überhaupt seine Meinung äußern konnte. Wenn man sich auf Klassiker bezog, war man auf der sicheren Seite – man konnte etwas Kritisches sagen, ohne direkt westliche Propaganda zu verbreiten. Meine Großmutter, die Philosophieprofessorin war, sagte, dass sie Diskussionen anstoßen konnte, solange sie sich auf literarische Zitate konzentrierte. Was sie selbst dachte, musste sie im Unterricht vorsichtig andeuten.

Pasternak war selbst ein begnadeter Dichter. Es ist naheliegend, dass seine eigenen Gedanken zu den großen Dichtern und deren Gedichten in die Figur Schiwago eingeflossen sind. Auch die Entscheidung, Schiwago zum Arzt zu machen, erscheint sinnvoll: So konnte Pasternak zeigen, wie das reale Leben aussah, wie es bedroht war, wie Menschen gezwungen wurden, mitzulaufen. Der Beruf bringt den nötigen Realismus ins Werk.

Doch gleichzeitig öffnet Pasternak durch die Gedichte eine zweite Ebene: eine innere Welt, die von Naturbeobachtungen, Schönheit und Hoffnung geprägt ist. Diese lyrischen Passagen durchbrechen den grauen Alltag des Krieges und geben dem Buch eine romantische, fast geistige Dimension. Sie zeigen, dass es trotz allem noch so etwas wie Menschlichkeit gibt.

Wie bereits erwähnt, war es für Pasternak vermutlich auch eine Form der Selbstverarbeitung: Ein Autor schreibt über das, was er selbst kennt. Die Faszination Schiwagos für das Dichten könnte also direkt von Pasternaks eigener Leidenschaft stammen. Mich hat das stark an den russischen Autor Bulgakow erinnert, der ebenfalls Arzt und Schriftsteller war.

Das letzte Kapitel von Doktor Schiwago besteht nur aus Gedichten. Ich interpretiere das so: Pasternak wollte uns damit an Natur, Lebensfreude, Beobachtungsgabe und eine gewisse geistige Klasse erinnern. Es wirkt wie ein bewusster Kontrast zur rein tragischen Seite des russischen Realismus.